Dezember, Zeit der Jahresrückblicke, ich reihe mich ein. Mein persönliches Highlight war der Besuch bei den Olympischen Sommerspielen 2024 in Paris – bei einer der ältesten und schönsten Sportarten der Welt. Genau: Dem Ringen.
Man könnte viel schreiben über die Atmosphäre, die in jenen Augusttagen in der Stadt herrschte. Oder über die Fahrt im TGV mit 318 km/h auf französischen und 129 km/h auf deutschen Gleisen. Ich will aber über Sport schreiben. Und über das Publikum.
Ich kenne niemanden, der einen Ringkampf besucht hat und danach nicht begeistert gewesen wäre. Das gilt für die hierzulande verbreiteten Mannschaftskämpfe mit vollen Hallen und steigender Spannung. Es gilt aber auch für die großen internationalen Meisterschaften und vor allem für die Olympischen Spiele.
Hier gehört das Ringen seit der Antike zum Programm. Vor einigen Jahren hat diese Kernsportart jedoch gewackelt, weil sie angeblich nicht jung, hipp und weiblich genug sei. Im Klartext heißt das, dass man nicht wirklich Geld damit verdienen kann – man braucht weder aufwändiges Equipment noch coole Klamotten. Athleten haben nur sich selbst, ihre Kraft, ihre Geschicklichkeit. Und ihren Mut, sich einem fairen Kampf zu stellen, dessen Ziel nicht die Verletzung des Gegners (oder gar Schlimmeres) ist. Wer unterliegt, steht neben dem Sieger und muss zuschauen, wie dessen Hand gehoben wird. Mehr Schaden ist nicht, sofern die Regeln eingehalten werden.
Die Geldleute vom IOC wurden bravourös ausgekontert damals. Sie hatten unterschätzt, wie tief das Ringen in vielen Kulturen dieser Welt verwurzelt ist. Der Shitstorm war jedenfalls beträchtlich. Und als jemand, der sich aktiv daran beteiligt hat, kann ich im Rückblick sagen, dass wir viel Rückhalt vom echten Sportjournalismus bekommen haben. Von dem Journalismus nämlich, den die Fußball-Monokultur ebenso anödet wie sie die Masse der Konsumenten über kurz oder lang anöden wird. Wohl dem, der dann Alternativen im Sportkalender hat.
Zugegeben, Ringen ist eine Randsportart. Aber wir können doch nicht nach Vielfalt schreien und gerade diesen Sport aus dem Programm tilgen. Frauenringen wurde olympisch, die Zahl der olympischen Gewichtsklassen reduziert, die Regeln und Turnierverläufe überarbeitet. Traditionalisten haben gestöhnt, aber achselzuckend zugestimmt. Zum Wohle aller, insbesondere der Zuschauer. Womit ich beim entscheidenden Punkt bin.
Die Ringerhalle in Paris war täglich ausverkauft, erstens. Zweitens hatten wir uns früh entschieden und konnten gute, wenngleich teure Plätze ergattern. Plätze in wahrhaft internationalem Flair. Vor uns saßen US-Ringer jeden Alters, leicht erkennbar an ihren Waranhälsen und Blumenkohlohren. Neben uns saß eine japanische Familie, ein Ehepaar mit kleiner Tochter und ebenso kleiner Fahne. Wenn das Kind nicht schlief, wurde die Fahne dezent geschwenkt. „Nippon“. Hinter uns saßen Mongolen, teilweise in ihrer bunten Tracht. An dieser waren auch Kasachen, Usbeken und Tadschiken erkennbar. Armenier, Türken, Schweden, Griechen und Inder an ihren Landesfahnen. Iraner an ihrem Schlachtruf und Franzosen an ihrer Überzahl. „Allez les Bleus“.
Ringen ist eine im besten Sinne globale Sportart. Man muss einander nicht lieben, aber man respektiert den jeweiligen Gegner. Wenn ein Japaner einen amtierenden Weltmeister aus den USA, wie in Paris geschehen, nach allen Regeln der Kunst auspunktet, gibt es Anerkennung zwischen den Fans beider Lager. Wenn ein Iraner gegen einen US-Ringer antritt, gelten die fairen Regeln des Sports inklusive Handshake.
Mehr noch: Die Lager der Fans kommen miteinander ins Gespräch, sofern das sprachlich möglich ist. Where are you from? Aserbaidschan? Great Wrestlers there. Do you remember… dann kommt ein Name. Oder zwei, so ist das. Und so ist Sport.
Die Tage in Paris waren ein Fest des Sports und ein Fest der internationalen Sport-Community, wohl nirgends so deutlich wie in der Ringerhalle. Dass die Pariser, sofern sie nicht im Urlaub weilten, glänzende Gastgeber waren, der Rahmen einzigartig, muss nicht extra erwähnt werden. Dass man im Restaurant plötzlich auf Englisch bestellen konnte, dagegen schon.
Erwähnenswert auch die Arbeit der französischen Polizei. Hier meine ich weniger die allgegenwärtigen Ordnungskräfte, die jeden Gedanken an Allotria durch ihre bloße Präsenz im Keim erstickten. Damit meine ich vor allem die drei Zivilpolizisten, die mir meine von chilenischen Trickdiebinnen in der Metro gezogene Brieftasche binnen weniger Minuten wiederbeschafften. Und mir nach Aufnahme des Protokolls die Weiterfahrt in die Ringerhalle bezahlten.
So geht Gastfreundschaft, so geht Olympia, so war Paris. Ein Fest fürs Leben.
Nicht nur für Ernest Hemingway.