Geordnete Veränderung. Eine kurze Geschichte

„Stillstand ist Rückschritt“ und „wer bremst, verliert“. Auch und gerade in Unternehmen sind Veränderungen längst Tagesgeschäft. Das Umfeld verändert sich, also müssen sich Organisationen ebenfalls verändern. Klingt einfach, ist aber diffizil. Die schlechte Nachricht: Veränderungen bedeuten zwangsläufig Unordnung – das kann man schon dem Levin‘schen Dreiklang des Change-Managements entnehmen. Unfreeze, change, refreeze. Wenn eine starre Organisation „aufgetaut“ wird, geraten die Dinge automatisch in Fluss. Umso wichtiger ist es, den Überblick und die gedankliche Ordnung zu behalten. Hier hilft ein einfaches Modell, das ich unter der etwas kryptischen Bezeichnung „Pro3Model“ kennengelernt habe. Die kurze Geschichte:

In den 1990er Jahren gerieten viele große Konzerne unter Druck, vor allem solche, die ursprünglich in Staatsbesitz gewesen und nun der (Teil-) Privatisierung und einem verstärkten Wettbewerb ausgesetzt waren. Nein, ich rede hier nicht von der Deutschen Bahn, sondern vom ehemals staatlichen Telekommunikationskonzern eines unserer Nachbarländer.

Dort machte man sich wenig Illusionen darüber, was die technologische Entwicklung und die Liberalisierung der Märkte für das Unternehmen bedeutete: existenziellen Veränderungsdruck. In einer ersten Phase sollte das Unternehmen schlanker, schneller und kundenorientierter werden. Das zugehörige Programm hieß „Factory“ und hatte zum Ziel, den Telefonriesen einem schlagkräftigen Industrieunternehmen ähnlicher zu machen als einer überdimensionalen Postfiliale.

Freunde und frühere Kollegen aus dem Fraunhofer IPA, die mittlerweile ein eigenes Beratungsunternehmen aufgebaut hatten, wurden mit der Aufgabe betraut, die neue Organisation zu gestalten und das Unternehmen auf dem Weg dorthin zu begleiten. Mir als Inhalts-Schreiber fiel der Part des Berichterstatters zu. Das notwendige Wissen sollte entlang des Veränderungsprozesses aufbereitet und zur Befähigung der Mitarbeiter an diese transferiert werden. So sprach und dachte man damals.

Wer das Pro3Model – die 3 steht vermutlich für „Prozess hoch drei“ – ursprünglich aus der Taufe hob, kann ich heute nicht mehr sagen. Miturheber waren jedenfalls die Herren Lukas Müller, Johannes Dobler und Michael Mezger. Die beiden Erstgenannten als Vertreter des Konzerns, der Letztere als Kopf einer Gruppe von Beratern. Ich selbst dann als „Change Reporter“, wie wir die Rolle später genannt haben.

Das Modell beruht auf der Idee, eine Organisation so umfassend und gleichzeitig so einfach wie möglich zu beschreiben. Nach der damals aufkommenden Vorstellung standen im Zentrum einer Unternehmensorganisation die auf den Kunden hin ausgerichteten Prozesse, die ein Geschäft im Sinne geschaffener Werte erst möglich machen. Deshalb spricht man auch heute noch von Geschäftsprozessen.

Verändert sich das geschäftliche Umfeld, müssen sich auch die Prozesse verändern, soweit das Credo einer Denkrichtung, die als „Business Process Reengineering“ bekannt wurde. Genau damit aber begannen die Probleme.

Ja, ein Unternehmen basiert auf Prozessen, aber eben nicht nur. Hinzu kommt eine Aufbauorganisation oder Struktur, die Spezialisierung und effiziente Arbeitsteilung möglich macht. Und es bedarf der Führung, um sowohl Prozesse als auch Struktur zielgerichtet steuern zu können. Ziele wiederum sind Teile der Strategie, die somit auch noch in das Modell gehört.

Sie sehen: Die Dinge werden komplex. Allerdings sehr viel weniger komplex als die Wirklichkeit. Das ist die gute Nachricht.

Hinzu kommt eine Hierarchie des Modells, ursprünglich dargestellt in drei Ebenen: Wertefluss-, End-to-End- und Teilprozessebene. Diese Ebenen sind nicht in Stein gemeißelt, haben sich aber in den ersten Anwendungen bewährt.

Der Clou besteht nun darin, dass man innerhalb des Modells immer die Wirkbeziehungen betrachten, analysieren, das Geschäfts-System danach neu gestalten kann. Die wesentliche Funktion bleibt für mich aber nach wie vor die Ordnungsfunktion.

Man kann sich unschwer vorstellen, was passiert, wenn in einem Unternehmen mit einer tief gestaffelten Organisation und Tausenden von Mitarbeitern an den Prozessen herumgewerkelt wird. Zumal oft noch gar nicht klar war, was Prozesse eigentlich sind. Man hielt Prozesse mehrheitlich noch für Gerichtsverfahren, kein Witz.

Kurzum: Wer Prozesse oder Strukturen umbaut, ohne auf die wechselseitigen Abhängigkeiten zu achten, löst damit meistens Chaos aus. Die Dinge passen nicht mehr zusammen. Wobei ich noch gar nicht vom „Menschlichen“ rede, sondern allein von der Sache: vom Geschäft. Dass Veränderung ohne die beteiligten Menschen gar nicht geht, ist so selbstverständlich (geworden), dass ich mir spare, hier näher darauf einzugehen.

Also: Bei Veränderungen geraten die Dinge in Fluss, das ist gewollt. Aber sie dürfen nicht ins Chaos stürzen, das kann in die Katastrophe münden. Genau hier half uns das Pro3Model. Die Change-Verantwortlichen waren jederzeit in der Lage, die Ordnung zu wahren oder wieder herzustellen.

Ein Teilprozess wird geändert – was heißt das für die Struktur? Für den übergeordneten Prozess? Wie muss künftig geführt werden? Derartige Fragen traten täglich auf, führten zu Diskussionen, zu Antworten und zu Verbesserungen. So geht das.

Was will Ihnen der Autor mit dieser Skizze sagen? Ich kann berichten, dass das Programm „Factory“ durch ein tiefes und langes Tal der Tränen führte. Aber es führte hindurch. Die Ordnung blieb gewahrt, der Erfolg kam zurück. Natürlich lag das nicht nur am „Pro3Model“, aber dieses hatte einen sehr hohen Anteil daran. Die flankierenden Maßnahmen des Change-Managements und der Befähigung können hier nicht einmal gestreift werden. Auch sie griffen und hatten Erfolg.

In Summe waren Programm und Modell so erfolgreich, dass auch die nächste große Veränderung des Konzerns nach diesen Leitideen gestaltet wurde. Gemeint ist die „agile Transformation“ des Unternehmens nach der Jahrtausendwende.

Das ist eine andere Geschichte. Ich war wieder als „Reporter“ dabei und erzähle die Geschichte gerne ein anderes Mal. Vielleicht.

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