Alles andere als Müll. Ein Sachbuch.

Die Geschichte der Menschheit ist auch eine Geschichte des Mülls. Um diese Erkenntnis kommt niemand herum, der das Buch „Müll. Eine schmutzige Geschichte der Menschheit“ von Roman Köster gelesen hat. Tatsächlich ist die Erforschung der Frühgeschichte ohne das Wühlen im Müll kaum möglich: Die Tonscherben der Bandkeramiker stammen, wie die meisten vorgeschichtlichen Artefakte, aus Haushaltsabfällen. Zutage gefördert, sortiert und interpretiert von Archäologen mit kriminalistischem Gespür. Insofern kann es niemanden verwundern, wenn die entscheidende Spur im sonntäglichen Tatort aus der Mülltonne stammt. Unser Müll sagt mehr über uns aus, als uns lieb sein kann.

Dabei verlief die Müllgeschichte über die historischen Perioden hinweg lange Zeit eher unauffällig. Ja, die Entsorgung von Abfällen spielte vor allem in den Städten des Mittelalters eine wichtige Rolle. Zum Glück handelte es sich dabei vor allem um Fäkalien, die abgeführt und als willkommener Dünger auf den Feldern ausgebracht wurden. Müll als Wachstumsbeschleuniger und Rohstoff – die Idee ist demzufolge nicht ganz neu.

Die frühe Neuzeit war geprägt durch Absolutismus und Merkantilismus. Und durch Kanzleien. In den fürstlichen Kanzleien der europäischen Höfe hat die Schreibwut unserer Behörden ihren Ursprung. Also wurde dort vor allem eines gebraucht: Papier. Der Rohstoff dafür war damals noch nicht Holz – die Gewinnung von Zellstoff aus Holz wurde erst später erfunden. Papier wurde aus Lumpen gemacht. In einem mehrstufigen, teilweise automatisierten Prozess wurden die Lumpen sortiert, geschnitten, gewaschen, gepresst, geleimt, gegautscht und geglättet. Ein Teil des europäischen Maschinenbaus hat seinen Ursprung in dieser Prozesskette. Aber das ist eine andere Geschichte.

Dass die Kreislaufwirtschaft nicht auf einem Grünen-Parteitag erfunden wurde, mag als Erkenntnis noch angehen. Die wahren Meister des industriellen Recycling waren jedoch… die Faschisten in Italien und Deutschland. Ausgerechnet. Hintergrund war das Bestreben, sich von den internationalen Rohstoffmärkten so weit als möglich abzukoppeln. Frühe Gegner der Globalisierung. Autsch! Bereits im ersten Weltkrieg hatten die damaligen Achsenmächte Deutschland und Österreich-Ungarn die Blockademaßnahmen der Alliierten weitgehend wirkungslos gemacht. Mit einer Tugend, die von den Franzosen als „génie d’Ersatz“ gefürchtet wurde. Getoppt wurde das noch von Japan, das bis weit in den Zweiten Weltkrieg hinein als „Land ohne Müll“ galt (Köster, S. 256). Liegen darin etwa die Wurzeln von Lean Management? Nicht auszudenken.

Der wahre Sündenfall der Müllerzeugung war – und ist – auf den ersten Blick der Massenkonsum. Dieser fiel jedoch nicht vom Himmel, sondern entsprang der konsequenten Nutzung von Skaleneffekten, die namentlich bei Lebensmitteln zu Buche schlugen. „Bei steigenden Reallöhnen sank der Anteil der Ausgaben für Lebensmittel am Haushaltsbudget kontinuierlich auf unter 10 Prozent“ (Köster, S. 273). Die Crux: Um in Supermärkten verkauft zu werden, müssen die Lebensmittel verpackt sein. Der Mülltsunami schwoll.

Aber nicht nur. Wie so oft sind die „Nebeneffekte“ fast noch fataler: „Der Anstieg der globalen Müllmengen ist symptomatisch für eine umwelthistorische Epochengrenze, die sich in den 1950er Jahren verorten lässt und in erster Linie durch einen dynamisch zunehmenden Ressourcenverbrauch charakterisiert werden kann: Ein stark ansteigender Energieverbrauch, die Herstellung energieintensiver Rohmaterialien wie Aluminium, das Transportaufkommen oder der internationale Tourismus“ (Köster, S. 269). Die Rede ist vom Klimawandel.

Oder, in meinen Worten: Wer weniger Geld für sein Essen benötigt, hat mehr Geld zum Reisen, verbraucht mehr Ressourcen, emittiert mehr CO2. Und schmeißt auf Bali seinen Müll ins Meer. Das ist der wahre Kreislauf des Konsumismus. Verdrängt, aber wahr.

Kurzum, die Dinge sind komplex. Und hängen zusammen. Es ist ein Verdienst des hier besprochenen Buches und seines Autors, diese Zusammenhänge sichtbar zu machen. Mit der Akribie des Historikers gräbt Roman Köster im Müll der Geschichte und macht uns um nicht nur eine Erkenntnis reicher: Der Mensch vergeht, sein Müll besteht.

Das Buch: Roman Köster: Müll. Eine schmutzige Geschichte der Menschheit. München, Verlag C.H. Beck 2023

P.S. Aus praktischen Gründen und zur Müllvermeidung habe ich das Buch als eBook gekauft. Diese Überlegung zur Nachhaltigkeit liegt auch den digitalen LOGiBits zugrunde, die in meinem Verlag erscheinen.

Kommentar verfassen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Scroll to Top